Florina Leinß

Backstage VouDou
Clemens Ottnad

Bildanlass für Arbeiten von Florina Leinß kann ein beliebiges Nagelloch in der Wand einer Architektur sein. Vager Beleg der Vorgeschichte eines mittlerweile weggenommenen Dinges oder einer aufgegebenen Funktion berichtet dieses ebenso eine zwischenzeitlich unsichtbare Vergangenheit wie es gleichermaßen Anfangspunkt auch eines vollkommen Neuen sein kann. Von dort aus entwickelt sie die Linie einer Zeichnung in den Raum, die – nach der Rückkehr derselben zu ihrem Ausgangsort unvermittelt Umriss geworden – eine Flächenform erzeugt, die wiederum unwillkürlich die Frage nach der ihr spezifisch eigenen Oberfläche, ihrer charakteristischen Beschaffenheit, der entsprechenden Farbe und dem Wie der Farbe stellt.

Perforationen ganz unterschiedlicher Art prägen offensichtlich zahlreiche Werkgruppen der Künstlerin. Dots, Rasterpunkte, kreisrunde Okulare und geometrische Formausschnitte mit abgerundeten Kanten erscheinen erhaben auf diversen Trägermaterialien oder umkehrt als Vertiefungen in MDF, Sperrholz und anderen Untergründen abgesenkt. Mal sind sie haptisch erfahrbar tatsächlich ins Material selbst geschnitten, mal simulieren sie nur den Durchblick als gemaltes Trompe-l’œil. Ob allerdings die in einem exakten Raster seriell gesetzten Tondi den irritierenden Eindruck erwecken, eine Wandscheibe wäre derart perforiert, um ausschnitthaft den Blick in einen dahinterliegenden imaginären Raum zu offenbaren, oder aber die wie ausgestanzt wirkenden Negativformen einer ansonsten farbig gefassten Fußbodenfläche den sie Betrachtenden, betreten Wollenden schier ins Bodenlose einer unter ihnen liegenden Räumlichkeit zu stürzen drohten, beständig muss angesichts dieser Arbeiten der Fokus wechseln.

Virtuelle Gucklöcher, Bullaugen, Spione in eine Wirklichkeit außerhalb des eigentlich eigenen Erfahrungsraums, die sie sind, fragen sie immer nach dem Davor und Dahinter, sowohl im Raum als auch in der Zeit bemessen. Gleichzeitig mimen sie aber beides in Einem, wenn nämlich die hochglänzend verschlossenen Lackoberflächen einerseits den Blick ganz und gar nach Außen abblitzen lassen, die sich in ihnen spiegelnden Reflexe andererseits einen ungeheuren Tiefensog in ihr Inneres hervorzubringen vermögen. So verweisen die von Florina Leinß verwandten Materialien und ihre Bildsprache zunächst bewusst auf industrielle Fertigungsmethoden und zeitgenössisch technisches Design, die beispielsweise an aus der Metallindustrie geläufige Stanzformen – Einzelteile von allerhand Gebrauchsgegenständen und Versatzstücken unserer Umgebungswirklichkeit – erinnern. Jedoch schenkt sie der Außenform des dieserart aus einem großen Ganzen Ausgestanzten, die in der Regel lediglich den ungedachten, überschüssigen Materialrest ausmacht und nicht weiter beachtet in den Abfall wandert, mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wie der zu produktivem Nutzen stehenden Binnenform.

Auf der Suche nach einer sich verselbständigenden „Idee des Plastischen“* wird aus der Matrix der vielfältigen Dingewelt und Alltagserfahrungen ein gänzlich individuelles, modulares Ersatzteillager der Imagination generiert, das abseits der Funktionalität der Massenproduktion je eigene Bildsinne und Sinnlichkeiten verfolgt, ohne dass dabei die uns allgegenwärtig bedrängende Ambivalenz von Schein und Sein der Produktionswelten geleugnet wäre. In beiden Fällen ziehen die verführerisch und in demselben Maße gefährlich lockenden Oberflächen – Haut, Häute und Berührungspunkte – unwiderstehlich an, und so komplex wie unzugänglich die Technik dieserlei Verführungskünste auch erscheinen mag, versuchen wir dennoch, einen geheimen Blick hinter ihre Kulissen zu werfen, um sie endlich nur zu verstehen.

In einer Art besonderer Analogiezauber eignet sich Florina Leinß so die Wirklichkeit an und schafft sich darüber hinaus neue. Inmitten des Meeres prezios blinkender Karosserien, die uns urban immerzu umrunden, oder all den spiegelverglasten Skyscrapern, die nichts Irdisches mehr heilig lassen mögen, durchdringt sie präzise mutwillig alle möglichen Oberflächen, entnimmt gewissermaßen partielle Gewebeproben, Abtragungen, Bohrlöcher unter die notorisch motorische Epidermis, um genauso intensiv auch die Untiefen des bezweifelten Stillstandes zu erkunden. Was der Form halber aber eben noch millionenfach Ersatzteil, x-beliebige Baukomponente war – leicht austauschbares Zubehör nach beigelegter Explosionszeichnung (Explosionen!) – beansprucht über einen malerisch differenzierten Farbauftrag, sorgsam aufkaschierten Folien oder auch in anderen Werkstoffen schließlich einzigartigen Originalcharakter und kehrt unversehens in das heimlich gehütete Stillleben-Dasein der Malerei zurück. Doch da liegt es (sich) nicht allzu lange ruhig.

„Sehen in sich selbst [ist] bereits mehr als Sehen. Als Umsicht, Einsicht, Vorsicht und Rücksicht ist das Sehen wie das Gesehene auf mannigfache Weise in Lebenszusammenhänge eingebettet. Eben deshalb partizipiert die Ordnung des Sichtbaren unmittelbar an einer Ordnung der Dinge.“**

* Florina Leinß im Atelier, 13. April 2018
** Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M. 1990, S.234